Asylwerber

İn der Strafkolonie. Franz Kafka

Obwohl Kafkas Text 1914 entstand, will ich ihn als İnterpretation meiner jüngsten Überlegungen über das nackte Leben betrachten. Besonders die willenlose, anscheinend gegen das eigene Schicksal gleichgültige Existenz des Delinquenten spricht für eine explizite Darstellung eines durch Entrechtung und Lagerhaft voellig verfügbar gemachten Menschenlebens, das sich mangels Gerichtsverhandlung, kundgemachter Anklage und Verurteilung selbst nicht verorten und folglich auf nichts berufen kann. Die vorgebliche Verurteilung besteht nur in einem Beschluss des Richters und Offiziers, und hat daher weder Ort noch Zeitpunkt - seine einzige Kundmachung würde in dem eingravierten (unleserlichen) Spruch bestehen.

Es ist vielleicht zuwenig bedacht worden, dass ja die ganze Szenerie, obwohl sie niemals im Text erscheint, doch eine Strafkolonie ıst, auf einer İnsel, einem Kommandanten unterstellt.
Wer wird hier bestraft, und wofür?
Offensichtlich ist der an der Exekution beteiligte phlegmatische Soldat ebenfalls ein Gefangener, der Schluss liegt nahe, dass auch der Offizier und der Kommandant es sind - nur eben der Reisende ausdrücklich nicht, da er ja das ganze Auditorium und die einzige Instanz der Abhandlung ist. İn der Strafkolonie ist naemlich der Grund für dıe dargestellte Urteilssituation zu suchen. Sie ist der eigens hergestellte Schauplatz ausserhalb des Rechts. Was sich hier vollzieht, ist Selbstjustiz ohnev İnstanzen, die sich am Ende auch an sich selbst vollzieht und dadurch aufhebt. Am alten Kommandantenwurde das bereits vorweggenommen. Die İnstanzenlosigkeit besteht ungeachtet der militaerischen Raenge, dıe ja vorhanden sind - und der vorgeführte Delinquent bekleidet einen niederen Rang. Aber indem Macht und Zustimmung auch dem alten Kommandanten entzogen werden, bleibt auch dieser nicht von der Verurteilung ausgenommen. Aber selbst der neue Kommandant wird als von Frauen beeinflusst dargestellt: Er tifft zwar Entscheidungen, aber er ist nicht deren Subjekt.
In der Kolonie gibt es kein Handeln und keinen Handelndes. Der einzig scheinbar taetig dargestellte Offizier wird mit keiner Handlung gezeigt, sondern nur mit einem Versuch der Rechtfertigung, der aber scheitert. Seine eigene Hinrichtung ist ausdrücklich keine Handlung eines Subjekts, sondern ein Mahlen der Maschine, und es sollte aufgefallen sein, dass sie nicht einmal eingeschaltet wurde, und im Ablauf ganz unerwartete Verhaltensweisen zeigt. Die Maschine wird als einzig taetiges Wesen gezeigt, das seine beiden Konstrukteure verschlingt, ohne einen Mord zu begehen (Agamben) - eher als Verhaengnis denn als Unfall. Deshalb ist der Apparat Ausdruck und Sinnbild der Strafkolonie im ganzen, welche Schauplatz der Herstellung von Subjektlosigkeit ist, aiso Ausnahmezustand und Lager zugleich.

Und was ist nun mit dem Reisenden selbst?
Ohne ihn bestünde in "Gegenwart" der Maschine dieselbe Situation wie in "Warten auf Godot". Er ist in der Szenerie der Lethargie der Erwartete, der die Selbstrechtfertigung ermöglichen soll, sich aber verweigert. Es findet keine Rechtfertigung statt, das Gericht vollzieht sich nicht am Beschuldigten, sondern am vermeintlichen Richter, im messianischen Strafgericht also, durch kein Subjekt im innerweltlichen Sinn.

Möglicherweise liesse sich das Apparat als Manifestation des Foucaultschen Begriffs der Diapositive lesen, Apparaturen der Verfügung über und Verfügbarmachung von Menschen in der Normalisierungsgesellschaft. Diapositive entstehen wie die öffentliche Meinung, es lassen sich zwar "Player" angeben, Massenmedien , Politiken, Forschungen, aber keine Verursacher, die verantwortlich zu machen sind. An dieser Stelle wird der Vergleich mit Kafkas Apparat ungenau. Eher ist der Apparat, wie oben gesagt, ein Verhaengnis, das auf Entsubjektivierung zulaeuft und diese umfassend verwirklicht.

Die Flucht des Reisenden?
Warum entzieht sich am Ende der, in dem eine Instanz erkannt sein wollte, ohne Rechtfertigung zu gewaehren?
Die Flucht zeigt ein Ausserhalb des Lagers, das gleichwohl, aus der Sicht der im Text dargestellten Welt, fıiktiv ist. Ist der Reisende ein Feigling, da er sich nicht in die Arena der Macht begeben hat?
Nein, der Reisende ist ein Godot, der noch zuwartet. Denn was er zurücklaesst in der Strafkolonie, ist ein zerstörter Justizapparat , ein nichtdesavuierter Befehlshaber und zwei freigesetzte Individuen, die das Heft in die Hand nehmen könnten und einen eigenen Text schreiben. Er wird erst am Ende wieder erscheinen, wenn Subjekte gerechtfertigt sind.

Asylwerber

a.

VORBEMERKUNGEN. Weitab von jeglicher "Realpolitik" fungiert als reines Symbol das Thema Saualm, ein Schmerzzeichen, das Zustimmung oder Ablehnung fordert und ansonsten keine weitere politische Bedeutung zu haben scheint. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ist eine genauere Untersuchung des Symbolwerts dieses Versuches der Flüchtlingsunterbringung nötig, die real gesehen ja völlig ineffizient ist. Im Oktober 2008 wird im ehemaligen Kinderheim auf 1200 m Seehöhe, 15 km von der nächsten Siedlung entfernt, eine „Sonderanstalt für straffällige Flüchtlinge“ eingerichtet. Acht Asylwerber aus Georgien, Kasachstan und Gambia werden dort untergebracht, bis sie im Dezember den Ort verlassen und vor dem Büro des Flüchtlingsreferenten protestieren. Die Landesregierung bleibt aber trotz Kritik weiterhin bei ihrem Plan.

saualm_weichselbraun

SAUALM_exterritorial

http://www.youtube.com/watch?v=f9tkP8lkyDQ
http://www.youtube.com/watch?v=WQnBae1WisM&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=l1n2la1zLQ0&feature=related

Ein gänzlich anderes Thema ist das, was ich zuletzt in meiner alten Heimat erlebt habe, als ich nach langen Jahren wieder einmal vom Norden Wiens ins Weinviertel fuhr, auf einer Strecke, die ich seit meiner Kinderzeit kenne. Ich machte die Erfahrung, dass man eigentlich gar nicht mehr aufs Land kommt, weil die Landschaft mit Siedlungen, Gewerbebetrieben und Verkehrsflächen praktisch zugewachsen ist. Wo ich früher kilometerlange Weizen- oder Spargelfelder mit dem Rad querte, schneidet jetzt eine Autobahn die Fläche, gesäumt von locker verteilten Baumarkthäuschen unter aerodynamisch ausgerichteten Windrädern. Waren die Dörfer entlang der Brünnerstraße und der Nordbahn auch früher keine Schmuckkästchen, sondern in der geraden windigen Einöde ein Bild der Tristesse, wie übrigens ganz ähnlich auch im Süden und Osten Wiens, so bot sich diesmal ein Bild der Hässlichkeit, die kaum mehr durch Grünflächen aufgelockert war.

b.

DIE THESEN. Seit dem Mittelalter sind in Europa zwei Siedlungsformen dominant: Dorf und Stadt. Sie stehen für zwei unterschiedliche Lebensformen, für eine mehr sesshafte, bäuerlich und traditionell geprägte, sowie für eine mobilere, die eine starke soziale Differenzierung kennt, sehr vom Handel und Gewerbe bestimmt und immer wieder verändert wird. Dem entsprechen verschiedene Sozialformen, einerseits eine dörflichen Stabilität in einer überschaubaren Größe, wo allerdings Familien bzw. Höfe die Grundeinheit sind, oder öffentliche Positionen wie Lehrer, Bürgermeister oder Pfarrer – diese öffentliche Verfügbarkeit wird im Begriff Amt ausgedrückt - nicht der einzelne, und andererseits eine von Handwerkerzünften ausgehende Orientierung an Berufen des sekundären und heute immer stärker des terziären Sektors, also Industrie und Dienstleistungsberufe. Man könnte sagen: Stabilität und Mobilität (Wandel) – so als stünden sich die Nachkommen der ehemaligen Siedler und die der Nomaden gegenüber.
Die These lautet nun, dass im 20. Jahrhundert zwei neue Siedlungsformen dazukommen: das Lager und die Vorstadt.

1. Das nackte Leben

c.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bringt die europäische Kolonialpolitik im Zuge der Kriegsführung in beanspruchten Territorien die Form des Konzentrationslagers hervor: die campos de concentrationes in Kuba sowie die concentration camps in Südafrika. Giorgio Agamben betont, dass es sich um Formen des Ausnahmezustandes und des Kriegsrechts handelt, die in demokratische Staaten entstanden sind und auch in Deutschland zuerst 1923 von der sozialdemokratischen Regierung angewendet wurden, um tausende Kommunisten sowie geflüchtete Ostjuden unterzubringen. Die Nationalsozialisten konnten somit auf eine bestehende Rechtsform (Ausnahmezustand) sowie eine Organisationsform (Konzentrationslager) zurückgreifen, als sie die Arbeitslager und Vernichtungslager einrichteten. Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt (Agamben, Homo sacer, S. 177). Es handelt sich um Einrichtungen, die für vorübergehende Notsituationen vorgesehen sind, aber aus Kalkül zu einer Dauereinrichtung gemacht werden.

d.

Hannah Arendt hebt das Prinzip der totalitären Herrschaft hervor, dass alles möglich ist, welches gerade in den Lagern zum Ausdruck kommt – übrigens gleichermaßen in den stalinistischen Lagern. Das Lager wird zum Zielbild der Herrschaft, eine „Totalverfügung“ über den Menschen zu erlangen. Mit dem Ausdruck Biopolitik beschreibt Foucault den politischen Anspruch, Leben zu machen, der über die Macht, Menschen zu töten, weit hinausgeht (Sexualität und Wahrheit 1, S. 165). Er hat nicht nur die faschistische Eugenik im Blick, sondern jegliche Planung der Existenzbedingungen: Gesundheitspolitik, Familienpolitik, Stadtplanung oder Bildungspolitik oder Einwanderungspolitik. Diese Machttechnologie bringt die Normalisierungsgesellschaft hervor, in der sich ihr gestaltender und normierender Einfluss bis in die privatesten Bereiche sowie gleichzeitig auf das Ganze der Gesellschaft erstreckt. Es ist Foucaults Verdienst, den individuellen Körper sowie den Volkskörper als Ort der Politik ins Licht gebracht zu haben. Das umfasst nicht nur Fragen von Hygiene und Gesundheitsvorsorge, sondern Vorstellungen individueller Lebensführung, medizinischer Forschung, Körperästhetik – auch Beziehungsästhetik: Da ist an die schrittweise Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu denken, an die Straffreiheit und gleichzeitige Anonymität bei Abtreibungen, sowie an die Pränataldiagnostik, deren bloßes Angebot bereits einen massiven Eingriff auf das individuelle Leben darstellt, sowie gleichzeitig auf den Volkskörper im Ganzen, da inzwischen kaum mehr Kinder geboren werden, deren Erbgut von der diagnostizierbaren Norm abweicht. Das ist Aidsprävention genauso wie allgemeine Rauchverbote, das sind Impfkampagnen wie auch die Freigabe von Drogen oder Ersatzdrogen.

e.

Das Produkt dieser Politikform heiß bei Agamben: das nackte Leben. Es ist das, was im faschistischen Staat nach Abzug des demokratischen Anspruchs auf Freiheitsrechte (Ausnahmezustand), auf Bürgerrechte (Entnationalisierung der Juden) und damit einhergehend auf Menschenrechte noch übrig bleibt. Der Mensch im völlig rechtlosen Zustand des Lagers: deshalb konnte man mit ihm machen, was man wollte. Gleiches sieht Agamben im klinisch Toten, auf dessen Körper der Zugriff erlaubt ist. Die neu verfügte Definition von Tod als Hirntod erlaubt die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen des Körpers des für tot erklärten Wesens. Somit schafft die Definition diese Form von Existenz.
Gleiches ist auch zu sehen bei in Invitrofertilisation hergestellten überschüssigen Föten. Das nackte Leben ist das Produkt der Biopolitik, die Leben macht. Ein weiteres großes Feld der Biopolitik ist die Zuwanderungspolitik.
Weltweit sind derzeit über 40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Bürgerkrieg, Hunger, Naturkatastrophen, Verfolgung, Folter oder Todesstrafe. Etwa die Hälfte davon sind Flüchtlinge im eigenen Land, also Binnenvertriebene. Sie sind in Darfur Spielball der von der Regierung ermächtigten arabischen Reitermilizen, im Nahen Osten Geiseln der antiisraelischen Politik und Herd von Extremismus und Terrorismus. Seit 1948/1967 determiniert die Existenz der palästinensischen Flüchtlingslager in den Nachbarländern Israels jegliche Nahostpolitik. Abgesehen von Jordanien erhielten die vertriebenen Palästinenser nirgends Bürgerrechte, stattdessen werden durch die syrische und iranische Regierung Terrorgruppen aufgerüstet. Es handelte sich bei den beiden Flüchtlingswellen um etwa eine Million Menschen, heute leben 3,5 Mio Menschen in den Lagern. Der Nahostkonflikt, und insbesondere das Flüchtlingsproblem, ist als Geburtsstätte des internationalen Terrorismus zu betrachten.
Und wie soll das genannt werden, was sich auf griechischen Straßen und Plätzen abspielt (Fotos vom August 2010), dieses Elend von tausenden Migranten, die monatelang auf eine Chance warten und schließlich, ohne ihre Gründe überhaupt darlegen zu können, schließlich still aus dem Land verschwinden?


Diese Bilder vom Flüchtlingselend in Patras, Griechenland, wurden von Achmed Nemry, einem von mir in Villach betreuten Sudanesen, im August 2010 aufgenommen, einige Monate, nachdem er von den österreichischen Behörden nach Griechenland abgeschoben wurde:

Asylwerber in Griechenland 2010

Asylwerber-in-Griechenland-20103

Asylwerber in Griechenland

Lager palästinensischer Flüchtlinge:

http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/bilder-1/lampe_detlef.htm
http://www.tagesschau.de/ausland/videoblogschneider130.html

Lager in Darfur:

Darfur_refugee_camp_in_Chad


f.

Wenn sich die Formen der Bebauung im Umland von Paris als Mischformen bezeichnen lassen, so ist damit der Wechsel von Einfamilienhäusern und Geschoßbau gemeint, von sozialem Wohnbau und Wohneigentum (Joachim Burdack in: Bastian/Hörner, Vor-Städte, S. 39). Deutlich wird die Beschleunigung des Lebens am Stadtrand vermerkt: Es entwickelt sich entlang der Ausfallstraßen und Bahnlinien, indem sich zuerst wenige Pioniere niederlassen, diese Zellen aber dann wie Brückenköpfe wirken und in mehreren Wellen Zuzüge anziehen, die sich dann recht wahllos anlagern. Das entstehende Bild zeigt überdeutlich jeglichen Mangel an Planung: Straßenzüge entlang früherer Feldwege, das Fehlen urbaner Zentren, von Begegnungsmöglichkeiten und öffentlichen Nahverkehrs, mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und nicht zuletzt die abscheuliche und geschmacklose Supermarktarchitektur der Einfamilienhäuschen – das alles wird wie vom Schicksal gegeben angenommen. Billige Betriebsansiedlungen „auf der grünen Wiese“ oder Tankstellen- Fastfood- und supermarksgesäumte Stadteinfahrten verlängern die Stadt ins Umland und künden von den kommenden Siedlungen im locker verbauten Gebiet.

http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,359343,00.html

http://www.sueddeutsche.de/app/flash/muenchen/slideshow/endstation/



g.

Dagegen handelt es sich bei den Vorstädten der Megacitys der Entwicklungsländer um Elendsquartiere. Interessant ist, dass dort zwischen am Stadtrand niedergelassenen Binnenmigranten aus ländlichen Gebieten sowie Kriegsflüchtlingen im selben Bereich kaum ein Unterschied auszumachen ist.
In Istanbul, gegenwärtig europäische Kulturhauptstadt, versteht man unter Gecekondus die über Nacht gebauten Häuser von Zuzüglern, die auch ohne Baugenehmigung nicht mehr abgerissen werden dürfen. Auf diese Weise wurde etwa aus dem ehemaligen elitären Erholungsgebiet Kağithane mit 5000 Einwohnern zur Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Siebziger Jahre eine Stadt mit 150.000 Einwohnern. Heute schätzt man den im Istanbuler Bezirk Şişli liegenden Stadtteil auf eine halbe Million Einwohner. Auffällig ist, dass die Ankömmlinge jeweils ihre Herkunft mitgebracht haben: Im Malatya-Viertel oder im Antep-Viertel hat man eigentlich das ganze Dorf mitgenommen, die selben Händler verkaufen dieselben (landwirtschaftlichen) Produkte, man spricht denselben Dialekt. Die Stadt wird zum Dorf, nicht der Dörfler zum Städter.

http://www.munichre-foundation.org/StiftungsWebsite/Topics/UrbanisationAndMegacities/de/

Dakar liegt auf einer ins Meer ragenden Landzunge, was die Ausbreitung beengt. Nach den direkt an die „cite“ grenzenden Stadtteilen Pikine und Guédiawaye ist Rufisque ein Mischgebiet von Industrie und Wohnvierteln. Böckmann schreibt: „In den Vorstädten bestehen gewachsene, die dörflichen Strukturen konservierende Wohnformen neben klassischen bidonvilles der Ärmsten der Armen. Hin und wieder errichtet einer, der es ‚geschafft’ hat, eine Villa. Familiäre Haupthäuser werden, sofern der Platz es erlaubt, durch Nebengelass und Einfriedungen ergänzt. Besteht die Möglichkeit, einen Gemüsegarten anzulegen, dann geschieht dies ebenso wie illegales Anzapfen von Strom-, Telefon- und Wasserleitungen. Bewässert wird das Gemüse mit häuslichen Abwässern. Die Produktion des Gartens wird zur Verbesserung des Familieneinkommens auf dem Markt verkauft. Je näher sich der Markt an der „cité“ befindet, umso höher ist der Profit, da die Reichen weniger feilschen.“ (Vor-Städte, S.19)

h.

Wer an die griechischen oder römischen, am Raster ausgerichteten städtischen Grundrisse gewöhnt ist, wird solches Wuchern als anarchistisch empfinden. Wer als Tourist aus dem Westen kommt, wird vielleicht Lebendigkeit und Erfindungsreichtum der Bewohner bewundern. Festzuhalten ist jedenfalls die weitgehende Planlosigkeit der sogenannten Stadtplaner, obwohl die Prozesse überall nach einem bestimmten Schema verlaufen. Diese Planlosigkeit findet sich aber auch bei den Bewohnern selbst. Die billigeren Zuzugsquartiere unserer Städte – das ist auch in der Kleinstadt Villach zu beobachten – werden von jungen Familiengründern angesteuert. Arbeitsstelle, Familie und Freundeskreis bleiben gleich wie bisher. Auseinandersetzung mit dem neuen Wohngebiet findet kaum statt, weder Nachbarn noch lokale Ereignisse finden Interesse. Während Kinder und Jugendliche naturgemäß eher für Gleichaltrige offen sind, orientiert sich die Familie an nichtlokalen Gegebenheiten. Und nach wenigen Jahren erfolgt der Umzug in ein besseres Viertel oder in ein Eigenheim.
Die Kommune mag eine gleich bleibende oder sogar wachsende Bevölkerung verzeichnen – die Menschen bewohnen die Stadt aber immer weniger. Die jeweilige Verwaltung versucht dann, die Bevölkerung durch Veranstaltungen und spektakuläre Ereignisse zu binden, verstärkt dadurch aber gerade die Beschleunigung. Danach gefragt, was er an seiner Stadt am meisten schätzt, sagt jeder stolze Villacher: „Dass ich schnell am Meer sein kann, in Graz oder in Salzburg, an den Kärntner Seen oder auf den Slowenischen Bergen.“ Kein einziger nennt etwas in der Stadt selbst. Und die Straßenzüge bestätigen und determinieren das: Sie führen aus der Stadt oder an ihr vorbei, aber kaum hinein.

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2. Entpersönlichung

i.

Auch die Lebensformen unterliegen der Beschleunigung. In den Firmen sind Langzeitangestellte selten geworden. Partnerschaften werden zunächst nur vorläufig eingegangen, auch wenn Kinder da sind. Falls eine entschiedene Bindung nachfolgt, gibt auch diese keine deutliche Stabilisierung – zu Trennungen kommt es dennoch. Ein großer Prozentsatz von Kindern wächst ohne in stabilen Beziehungen lebende Eltern auf. Sie werden schwerlich das nötige Rüstzeug für partnerschaftliche Kommunikation erwerben.
Die beschleunigten Lebensprozesse erschweren Bindungen weiter. Im Morgenstau macht man keine Bekanntschaften. Die ganze Apparatur der Lebensführung ist zu einer Hürde geworden, Beruf, Freizeit, Sport, Hobbies verlangen ihren Inhabern jegliche Aufmerksamkeit ab. Obwohl es die allerpersönlichsten Dinge sind und jeder sich freiwillig entschieden hat, ist doch eine erstaunliche Gleichschaltung zu beobachten. Die Führung einer eigenen persönlichen Existenz erscheint oft wie ein schwerer Rücksack, unter dem man stöhnt. Individuell ist das Bankkonto, nicht die Biografie.

j.

Alle aufgezählten Erscheinungen, von der Vorstadt bis zur beschleunigten persönlichen Existenz, stimmen in einem Punkt überein: Es sind Vorgänge, für die niemand verantwortlich ist. Von selbst entstehende Siedlungen, sich irgendwie ergebende Formen des Existierens und des Zusammenlebens, das scheint alles Moden und Konjunkturen zu unterliegen, die von niemand gesteuert werden und die kaum jemand durchschaut. Wohl lassen sich diejenigen ausfindig machen, die davon profitieren: Finanzberater, Lebensberater und Partnervermittlungsinstitute. Aber wie bei den großen Finanz- und Wirtschaftskrisen kann man zwar angeben, wessen Versagen sie ausgelöst hat und welche Maßnahmen sie lindern konnte, aber gesteuert sind diese Vorgänge von niemandem. Was mit Finanzmarkt umschrieben ist, ist bloßer Schauplatz von Ereignissen, aber verantwortlich sind weder der Markt noch die dort auftretenden Anbieter oder Käufer. Es ist eine Welt ohne Subjekt entstanden, und was sich ereignet, von der Finanzkrise bis zur persönlichen Existenz, scheint wie ein Verhängnis über erstaunte Menschen hereinzubrechen.

k.

Biopolitik hat das Leben bloßgestellt und verfügbar gemacht, wie es zunächst in den Lagern durchgeführt wurde. Aber dieses Lager ist nun umfassend geworden, es gibt kein außerhalb mehr. Womöglich eine Million Videokameras (Schätzung durch Arge Daten) kontrollieren in Österreich den öffentlichen Raum und machen Bahnpassagiere oder Kaufhausbesucher zu potentiellen Dieben und Terroristen. Jede Firma beaufsichtigt das Konsumverhalten ihrer Kunden mittels Kundenkarte und Warenbestand, Mobilfunkanbieter kennen das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden. Aber die Konsumenten scheint es nicht zu stören, bereitwillig lassen sie sich digital in die Karten sehen. Medienanbieter scheuen sich nicht, jede Sendung sogleich auf die Reichweite prüfen zu lassen, und folglich reichweitenbezogen zu produzieren, gleiches tun Politiker mit Meinungsumfragen. Mit dem Subjekt ist auch das Handeln entschwunden, das Ziele verfolgt und Welt gestaltet. Regieren ist eine Prozedur geworden, in der sich Abläufe vollziehen, ohne dass jemand dafür verantwortlich wäre. Biopolitik wird von niemand gemacht, aber sie verfügt über unser aller nacktes Leben.

l.

Das scheint einer der Gründe zu sein, warum wir im Westen uns so schwer tun mit den Migranten, obwohl unsere Völker alle lange Vorgeschichten von Einwanderung und Völkerwanderungen hinter sich haben. Wir sind selbst Getriebene und nirgends richtig daheim, um jemand aufnehmen zu können. Andererseits sind die Millionen von Migranten selbst Teil der Maschine: nacktes Leben, von niemand geschützt, nicht dort, wo sie Bürger waren (falls sie das überhaupt je waren; in Ländern wie Tschetschenien hat man kein Recht auf einen Pass – wenn man kein Russe ist), und auch dort nicht, wo sie hinwollen. Kriege, verfehlte Politiken, Naturkatastrophen bringen Menschen in Bewegung und berauben sie jeder Sicherung und Würde.

Und das ist nun der Grund, warum in einer Gesellschaft, die selbst gänzlich exterritorial geworden ist, in der Heimat, Handeln und Selbstsein verschwunden sind, nun dennoch wieder Lager errichtet werden, auf der Saualm wie in Guantanamo, im Tschad wie in Gaza: damit dem ausgesetzten verfügbaren nackten Leben, das überall entstanden ist, ein Außen entgegengesetzt wird, ein Außerhalb, das ex negativo nun seinerseits das Innen konstituiert. Die islamische Welt und Israel, einander jeweils außen und innen. Über das hergestellte nackte Leben müsste man nicht sprechen. Abtreibungen werden nicht registriert, Organbanken sind nicht öffentlich einsehbar, die Kreditkartennutzung wird nicht offengelegt, die Leser-Steuerung nicht selbst publiziert. Wo aber eine Zusammengehörigkeit konstituiert werden soll, da braucht es ein weithin sichtbares Außerhalb, über das viel Aufhebens gemacht werden muss. Das weiß der Kärntner Landeshauptmann genauso gut wie Achmedinejad, George Bush, Ismail Hanija wie Benjamin Netanjahu. Wessen bedarf die im innersten gefährdete griechische Gesellschaft? Genau.

Patras:

Asylwerber-in-Griechenland-2010

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ein strom entspringt in eden, der den garten bewässertr, dort teilt er sich und wird zu vier hauptflüssen ... der vierte strom ist der euphrat

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