1. Das nackte Leben

c.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bringt die europäische Kolonialpolitik im Zuge der Kriegsführung in beanspruchten Territorien die Form des Konzentrationslagers hervor: die campos de concentrationes in Kuba sowie die concentration camps in Südafrika. Giorgio Agamben betont, dass es sich um Formen des Ausnahmezustandes und des Kriegsrechts handelt, die in demokratische Staaten entstanden sind und auch in Deutschland zuerst 1923 von der sozialdemokratischen Regierung angewendet wurden, um tausende Kommunisten sowie geflüchtete Ostjuden unterzubringen. Die Nationalsozialisten konnten somit auf eine bestehende Rechtsform (Ausnahmezustand) sowie eine Organisationsform (Konzentrationslager) zurückgreifen, als sie die Arbeitslager und Vernichtungslager einrichteten. Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt (Agamben, Homo sacer, S. 177). Es handelt sich um Einrichtungen, die für vorübergehende Notsituationen vorgesehen sind, aber aus Kalkül zu einer Dauereinrichtung gemacht werden.

d.

Hannah Arendt hebt das Prinzip der totalitären Herrschaft hervor, dass alles möglich ist, welches gerade in den Lagern zum Ausdruck kommt – übrigens gleichermaßen in den stalinistischen Lagern. Das Lager wird zum Zielbild der Herrschaft, eine „Totalverfügung“ über den Menschen zu erlangen. Mit dem Ausdruck Biopolitik beschreibt Foucault den politischen Anspruch, Leben zu machen, der über die Macht, Menschen zu töten, weit hinausgeht (Sexualität und Wahrheit 1, S. 165). Er hat nicht nur die faschistische Eugenik im Blick, sondern jegliche Planung der Existenzbedingungen: Gesundheitspolitik, Familienpolitik, Stadtplanung oder Bildungspolitik oder Einwanderungspolitik. Diese Machttechnologie bringt die Normalisierungsgesellschaft hervor, in der sich ihr gestaltender und normierender Einfluss bis in die privatesten Bereiche sowie gleichzeitig auf das Ganze der Gesellschaft erstreckt. Es ist Foucaults Verdienst, den individuellen Körper sowie den Volkskörper als Ort der Politik ins Licht gebracht zu haben. Das umfasst nicht nur Fragen von Hygiene und Gesundheitsvorsorge, sondern Vorstellungen individueller Lebensführung, medizinischer Forschung, Körperästhetik – auch Beziehungsästhetik: Da ist an die schrittweise Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu denken, an die Straffreiheit und gleichzeitige Anonymität bei Abtreibungen, sowie an die Pränataldiagnostik, deren bloßes Angebot bereits einen massiven Eingriff auf das individuelle Leben darstellt, sowie gleichzeitig auf den Volkskörper im Ganzen, da inzwischen kaum mehr Kinder geboren werden, deren Erbgut von der diagnostizierbaren Norm abweicht. Das ist Aidsprävention genauso wie allgemeine Rauchverbote, das sind Impfkampagnen wie auch die Freigabe von Drogen oder Ersatzdrogen.

e.

Das Produkt dieser Politikform heiß bei Agamben: das nackte Leben. Es ist das, was im faschistischen Staat nach Abzug des demokratischen Anspruchs auf Freiheitsrechte (Ausnahmezustand), auf Bürgerrechte (Entnationalisierung der Juden) und damit einhergehend auf Menschenrechte noch übrig bleibt. Der Mensch im völlig rechtlosen Zustand des Lagers: deshalb konnte man mit ihm machen, was man wollte. Gleiches sieht Agamben im klinisch Toten, auf dessen Körper der Zugriff erlaubt ist. Die neu verfügte Definition von Tod als Hirntod erlaubt die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen des Körpers des für tot erklärten Wesens. Somit schafft die Definition diese Form von Existenz.
Gleiches ist auch zu sehen bei in Invitrofertilisation hergestellten überschüssigen Föten. Das nackte Leben ist das Produkt der Biopolitik, die Leben macht. Ein weiteres großes Feld der Biopolitik ist die Zuwanderungspolitik.
Weltweit sind derzeit über 40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Bürgerkrieg, Hunger, Naturkatastrophen, Verfolgung, Folter oder Todesstrafe. Etwa die Hälfte davon sind Flüchtlinge im eigenen Land, also Binnenvertriebene. Sie sind in Darfur Spielball der von der Regierung ermächtigten arabischen Reitermilizen, im Nahen Osten Geiseln der antiisraelischen Politik und Herd von Extremismus und Terrorismus. Seit 1948/1967 determiniert die Existenz der palästinensischen Flüchtlingslager in den Nachbarländern Israels jegliche Nahostpolitik. Abgesehen von Jordanien erhielten die vertriebenen Palästinenser nirgends Bürgerrechte, stattdessen werden durch die syrische und iranische Regierung Terrorgruppen aufgerüstet. Es handelte sich bei den beiden Flüchtlingswellen um etwa eine Million Menschen, heute leben 3,5 Mio Menschen in den Lagern. Der Nahostkonflikt, und insbesondere das Flüchtlingsproblem, ist als Geburtsstätte des internationalen Terrorismus zu betrachten.
Und wie soll das genannt werden, was sich auf griechischen Straßen und Plätzen abspielt (Fotos vom August 2010), dieses Elend von tausenden Migranten, die monatelang auf eine Chance warten und schließlich, ohne ihre Gründe überhaupt darlegen zu können, schließlich still aus dem Land verschwinden?


Diese Bilder vom Flüchtlingselend in Patras, Griechenland, wurden von Achmed Nemry, einem von mir in Villach betreuten Sudanesen, im August 2010 aufgenommen, einige Monate, nachdem er von den österreichischen Behörden nach Griechenland abgeschoben wurde:

Asylwerber in Griechenland 2010

Asylwerber-in-Griechenland-20103

Asylwerber in Griechenland

Lager palästinensischer Flüchtlinge:

http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/bilder-1/lampe_detlef.htm
http://www.tagesschau.de/ausland/videoblogschneider130.html

Lager in Darfur:

Darfur_refugee_camp_in_Chad


f.

Wenn sich die Formen der Bebauung im Umland von Paris als Mischformen bezeichnen lassen, so ist damit der Wechsel von Einfamilienhäusern und Geschoßbau gemeint, von sozialem Wohnbau und Wohneigentum (Joachim Burdack in: Bastian/Hörner, Vor-Städte, S. 39). Deutlich wird die Beschleunigung des Lebens am Stadtrand vermerkt: Es entwickelt sich entlang der Ausfallstraßen und Bahnlinien, indem sich zuerst wenige Pioniere niederlassen, diese Zellen aber dann wie Brückenköpfe wirken und in mehreren Wellen Zuzüge anziehen, die sich dann recht wahllos anlagern. Das entstehende Bild zeigt überdeutlich jeglichen Mangel an Planung: Straßenzüge entlang früherer Feldwege, das Fehlen urbaner Zentren, von Begegnungsmöglichkeiten und öffentlichen Nahverkehrs, mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und nicht zuletzt die abscheuliche und geschmacklose Supermarktarchitektur der Einfamilienhäuschen – das alles wird wie vom Schicksal gegeben angenommen. Billige Betriebsansiedlungen „auf der grünen Wiese“ oder Tankstellen- Fastfood- und supermarksgesäumte Stadteinfahrten verlängern die Stadt ins Umland und künden von den kommenden Siedlungen im locker verbauten Gebiet.

http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,359343,00.html

http://www.sueddeutsche.de/app/flash/muenchen/slideshow/endstation/



g.

Dagegen handelt es sich bei den Vorstädten der Megacitys der Entwicklungsländer um Elendsquartiere. Interessant ist, dass dort zwischen am Stadtrand niedergelassenen Binnenmigranten aus ländlichen Gebieten sowie Kriegsflüchtlingen im selben Bereich kaum ein Unterschied auszumachen ist.
In Istanbul, gegenwärtig europäische Kulturhauptstadt, versteht man unter Gecekondus die über Nacht gebauten Häuser von Zuzüglern, die auch ohne Baugenehmigung nicht mehr abgerissen werden dürfen. Auf diese Weise wurde etwa aus dem ehemaligen elitären Erholungsgebiet Kağithane mit 5000 Einwohnern zur Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Siebziger Jahre eine Stadt mit 150.000 Einwohnern. Heute schätzt man den im Istanbuler Bezirk Şişli liegenden Stadtteil auf eine halbe Million Einwohner. Auffällig ist, dass die Ankömmlinge jeweils ihre Herkunft mitgebracht haben: Im Malatya-Viertel oder im Antep-Viertel hat man eigentlich das ganze Dorf mitgenommen, die selben Händler verkaufen dieselben (landwirtschaftlichen) Produkte, man spricht denselben Dialekt. Die Stadt wird zum Dorf, nicht der Dörfler zum Städter.

http://www.munichre-foundation.org/StiftungsWebsite/Topics/UrbanisationAndMegacities/de/

Dakar liegt auf einer ins Meer ragenden Landzunge, was die Ausbreitung beengt. Nach den direkt an die „cite“ grenzenden Stadtteilen Pikine und Guédiawaye ist Rufisque ein Mischgebiet von Industrie und Wohnvierteln. Böckmann schreibt: „In den Vorstädten bestehen gewachsene, die dörflichen Strukturen konservierende Wohnformen neben klassischen bidonvilles der Ärmsten der Armen. Hin und wieder errichtet einer, der es ‚geschafft’ hat, eine Villa. Familiäre Haupthäuser werden, sofern der Platz es erlaubt, durch Nebengelass und Einfriedungen ergänzt. Besteht die Möglichkeit, einen Gemüsegarten anzulegen, dann geschieht dies ebenso wie illegales Anzapfen von Strom-, Telefon- und Wasserleitungen. Bewässert wird das Gemüse mit häuslichen Abwässern. Die Produktion des Gartens wird zur Verbesserung des Familieneinkommens auf dem Markt verkauft. Je näher sich der Markt an der „cité“ befindet, umso höher ist der Profit, da die Reichen weniger feilschen.“ (Vor-Städte, S.19)

h.

Wer an die griechischen oder römischen, am Raster ausgerichteten städtischen Grundrisse gewöhnt ist, wird solches Wuchern als anarchistisch empfinden. Wer als Tourist aus dem Westen kommt, wird vielleicht Lebendigkeit und Erfindungsreichtum der Bewohner bewundern. Festzuhalten ist jedenfalls die weitgehende Planlosigkeit der sogenannten Stadtplaner, obwohl die Prozesse überall nach einem bestimmten Schema verlaufen. Diese Planlosigkeit findet sich aber auch bei den Bewohnern selbst. Die billigeren Zuzugsquartiere unserer Städte – das ist auch in der Kleinstadt Villach zu beobachten – werden von jungen Familiengründern angesteuert. Arbeitsstelle, Familie und Freundeskreis bleiben gleich wie bisher. Auseinandersetzung mit dem neuen Wohngebiet findet kaum statt, weder Nachbarn noch lokale Ereignisse finden Interesse. Während Kinder und Jugendliche naturgemäß eher für Gleichaltrige offen sind, orientiert sich die Familie an nichtlokalen Gegebenheiten. Und nach wenigen Jahren erfolgt der Umzug in ein besseres Viertel oder in ein Eigenheim.
Die Kommune mag eine gleich bleibende oder sogar wachsende Bevölkerung verzeichnen – die Menschen bewohnen die Stadt aber immer weniger. Die jeweilige Verwaltung versucht dann, die Bevölkerung durch Veranstaltungen und spektakuläre Ereignisse zu binden, verstärkt dadurch aber gerade die Beschleunigung. Danach gefragt, was er an seiner Stadt am meisten schätzt, sagt jeder stolze Villacher: „Dass ich schnell am Meer sein kann, in Graz oder in Salzburg, an den Kärntner Seen oder auf den Slowenischen Bergen.“ Kein einziger nennt etwas in der Stadt selbst. Und die Straßenzüge bestätigen und determinieren das: Sie führen aus der Stadt oder an ihr vorbei, aber kaum hinein.

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ein strom entspringt in eden, der den garten bewässertr, dort teilt er sich und wird zu vier hauptflüssen ... der vierte strom ist der euphrat

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