2. Entpersönlichung

i.

Auch die Lebensformen unterliegen der Beschleunigung. In den Firmen sind Langzeitangestellte selten geworden. Partnerschaften werden zunächst nur vorläufig eingegangen, auch wenn Kinder da sind. Falls eine entschiedene Bindung nachfolgt, gibt auch diese keine deutliche Stabilisierung – zu Trennungen kommt es dennoch. Ein großer Prozentsatz von Kindern wächst ohne in stabilen Beziehungen lebende Eltern auf. Sie werden schwerlich das nötige Rüstzeug für partnerschaftliche Kommunikation erwerben.
Die beschleunigten Lebensprozesse erschweren Bindungen weiter. Im Morgenstau macht man keine Bekanntschaften. Die ganze Apparatur der Lebensführung ist zu einer Hürde geworden, Beruf, Freizeit, Sport, Hobbies verlangen ihren Inhabern jegliche Aufmerksamkeit ab. Obwohl es die allerpersönlichsten Dinge sind und jeder sich freiwillig entschieden hat, ist doch eine erstaunliche Gleichschaltung zu beobachten. Die Führung einer eigenen persönlichen Existenz erscheint oft wie ein schwerer Rücksack, unter dem man stöhnt. Individuell ist das Bankkonto, nicht die Biografie.

j.

Alle aufgezählten Erscheinungen, von der Vorstadt bis zur beschleunigten persönlichen Existenz, stimmen in einem Punkt überein: Es sind Vorgänge, für die niemand verantwortlich ist. Von selbst entstehende Siedlungen, sich irgendwie ergebende Formen des Existierens und des Zusammenlebens, das scheint alles Moden und Konjunkturen zu unterliegen, die von niemand gesteuert werden und die kaum jemand durchschaut. Wohl lassen sich diejenigen ausfindig machen, die davon profitieren: Finanzberater, Lebensberater und Partnervermittlungsinstitute. Aber wie bei den großen Finanz- und Wirtschaftskrisen kann man zwar angeben, wessen Versagen sie ausgelöst hat und welche Maßnahmen sie lindern konnte, aber gesteuert sind diese Vorgänge von niemandem. Was mit Finanzmarkt umschrieben ist, ist bloßer Schauplatz von Ereignissen, aber verantwortlich sind weder der Markt noch die dort auftretenden Anbieter oder Käufer. Es ist eine Welt ohne Subjekt entstanden, und was sich ereignet, von der Finanzkrise bis zur persönlichen Existenz, scheint wie ein Verhängnis über erstaunte Menschen hereinzubrechen.

k.

Biopolitik hat das Leben bloßgestellt und verfügbar gemacht, wie es zunächst in den Lagern durchgeführt wurde. Aber dieses Lager ist nun umfassend geworden, es gibt kein außerhalb mehr. Womöglich eine Million Videokameras (Schätzung durch Arge Daten) kontrollieren in Österreich den öffentlichen Raum und machen Bahnpassagiere oder Kaufhausbesucher zu potentiellen Dieben und Terroristen. Jede Firma beaufsichtigt das Konsumverhalten ihrer Kunden mittels Kundenkarte und Warenbestand, Mobilfunkanbieter kennen das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden. Aber die Konsumenten scheint es nicht zu stören, bereitwillig lassen sie sich digital in die Karten sehen. Medienanbieter scheuen sich nicht, jede Sendung sogleich auf die Reichweite prüfen zu lassen, und folglich reichweitenbezogen zu produzieren, gleiches tun Politiker mit Meinungsumfragen. Mit dem Subjekt ist auch das Handeln entschwunden, das Ziele verfolgt und Welt gestaltet. Regieren ist eine Prozedur geworden, in der sich Abläufe vollziehen, ohne dass jemand dafür verantwortlich wäre. Biopolitik wird von niemand gemacht, aber sie verfügt über unser aller nacktes Leben.

l.

Das scheint einer der Gründe zu sein, warum wir im Westen uns so schwer tun mit den Migranten, obwohl unsere Völker alle lange Vorgeschichten von Einwanderung und Völkerwanderungen hinter sich haben. Wir sind selbst Getriebene und nirgends richtig daheim, um jemand aufnehmen zu können. Andererseits sind die Millionen von Migranten selbst Teil der Maschine: nacktes Leben, von niemand geschützt, nicht dort, wo sie Bürger waren (falls sie das überhaupt je waren; in Ländern wie Tschetschenien hat man kein Recht auf einen Pass – wenn man kein Russe ist), und auch dort nicht, wo sie hinwollen. Kriege, verfehlte Politiken, Naturkatastrophen bringen Menschen in Bewegung und berauben sie jeder Sicherung und Würde.

Und das ist nun der Grund, warum in einer Gesellschaft, die selbst gänzlich exterritorial geworden ist, in der Heimat, Handeln und Selbstsein verschwunden sind, nun dennoch wieder Lager errichtet werden, auf der Saualm wie in Guantanamo, im Tschad wie in Gaza: damit dem ausgesetzten verfügbaren nackten Leben, das überall entstanden ist, ein Außen entgegengesetzt wird, ein Außerhalb, das ex negativo nun seinerseits das Innen konstituiert. Die islamische Welt und Israel, einander jeweils außen und innen. Über das hergestellte nackte Leben müsste man nicht sprechen. Abtreibungen werden nicht registriert, Organbanken sind nicht öffentlich einsehbar, die Kreditkartennutzung wird nicht offengelegt, die Leser-Steuerung nicht selbst publiziert. Wo aber eine Zusammengehörigkeit konstituiert werden soll, da braucht es ein weithin sichtbares Außerhalb, über das viel Aufhebens gemacht werden muss. Das weiß der Kärntner Landeshauptmann genauso gut wie Achmedinejad, George Bush, Ismail Hanija wie Benjamin Netanjahu. Wessen bedarf die im innersten gefährdete griechische Gesellschaft? Genau.

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