Sonntag in Damaskus

Heute eine heilige Messe in der syrisch-katholischen Kirche:
Zwei Ministrantinnen, eine kleine, eine grosse, die grosse unterwies die kleine, wie die Kerzenleuchter zu tragen seien, die groesser waren als sie selbst. Wundervolle arabische Gesaenge wurden von zwei Damen in der ersten Reihe angestimmt, die Gemeinde setzte ein. Der Friedensgruss wurde von beiden Priestern an die Ministrantinnen weitergegeben, und diese ueberbrachten sie den Gemeindemitgliedern, die ihre gefalteten Haende mit den eigenen umschlossen. Die Gemeinde war etwa so gross wie unsere an normalen Sonntagen, etliche junge Maenner und Frauen, sowie einige Missionarinnen der Naechstenliebe. Nach der Messe folgte ein Gebet der Mutter Theresa, wobei ein Bild von ihr aufgestellt wurde. Als der Priester beim Schlusssegen das Bild hochhob wie zu Fronleichnam die Monstranz, sah es aus, als waere sie der Kopf zu seinem Koerper.

In der armenischen Nachbarkirche wird eine Trauung vorbereitet, ich sehe, wie sie geschmueckt wird mit Blumen und Kerzen, eine junge Frau kniet betend in der Bank, der Priester in einer anderen. Um neun Uhr Abends beginnen sich die Gassen zu verstopfen, mehrere Reihen von Autos hineingezwaengt, Vaeter tragen ihre kleinen Kinder unterm Arm, schoen gekleidete Menschen auf den Gehsteigen der Altstadt.

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Nachrichten aus Mari

Ohne auf das Reich von Mari einzugehen, das im spaeten dritten Jahrtausend vor Christus am mittleren Euphrat eine Macht war, moechte ich dennoch auf die alte Geschichte Syriens und Palaestinas zurueckkommen, und zwar auf zwei Ueberlegungen von Niels Peter Lemche, einerseits zu seinem Paradigma Zentrum - Peripherie, das doch viel besser die Religionsgeschichte dieser Region beschreiben kann, und andererseits auf den Begriff der Habiru, der zwar voellig ueberzogen interpretiert worden ist, aber in einer realistischeren Auffassung viel fuer unsere eigene Theoriebildung hergeben kann.

Vorerst aber Bilder vom Palast von Mari sowie von dem Tempeln fuer Dagan und Schamasch:

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Diese Strasse folgt dem Euphrattal. Von Deir az Zor waren es 190 km mit einem Kleinbus, zurueck genausoviel, aber zunaecht bis Dura Europos, den Resten der roemischen Grenzfestung zu den Parthern per Lastwagen, den Rest mit einem klapprigen Chevrolet.

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Und schliesslich soll noch bewiesen werden, dass Deir az Zor tatsaechlich am Euphrat liegt.

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Die Geschichte des Alten Orient wurde oft nach dem europaeischen Muster primitive Gesellschaftsformen + Nomaden, und hochentwickelte Gesellschaft + Stadt beschrieben. Das ist ein evolutionistisches Modell, mit dem der westliche Imperialismus legitimiert wurde. Gerade ein Staat wie Mari laesst sich aber besser als Palaststaat kennzeichnen, in dem ein dynastisches Zentrum Macht gewinnt mit Hilfe einer Peripherie, welche sie anerkennt, weil sie wirtschaftliche oder Vorteile der Sicherheit sieht. Das liesse sich auch z.B. fuer Jerusalem in der biblischen Koenigszeit sagen, sowie fuer die anderen palaestinensischen Stadtstaaten. Es laesst sich aber auch das Gegenteil beobachten, naemlich dass die Peripherie dem Zentrum die Anerkennung wieder entzieht, wenn der Koenig Sicherheit und Wohlstand nicht garantieren kann. So ist das Hethiterreich an den rund um ihre Haupstadt lebenden Bergstaemmen zugrunde gegangen, nicht durch fremde Grossmaechte, das alte aegyptische Reich durch die Hurriter, die schon laengst eingewandeet waren, oder die kleinen palaestinensischen Stadtstaaten der Spaetbronzezeit durch die nomadischen Sutu oder Schasu. Dabei formierten sich lt. Lemche auch neue Staemme, die er als freie Zusammenschluesse von Familien oder Clans beschreibt. Peripherie und Zentrum sind also nicht ueber- sondern polar geordnet, einmal dominiert das Zentrum, ein anderes Mal die Peripherie. Sesshafte und nichtsesshafte Landbevoelkerung sowie Stadtbewohner sind keine festen Einheiten. Stadtbewohner betreiben haeufig Landwirtschaft, im Alten Orient oft zu 80 Prozent und mehr. Andererseits konnten Grundbesitzer in der Stadt leben, und beispielsweise Abraham und die meisten Erzvaeter werden mit Staedtischer Herkunft dargestellt: Harran, bzw.Ur in Chaldaea.
Das wirft ein neues Licht auf die modernen Megacitys, die vielfach ja von der Peripherie beherrscht werden. Aus anatolischen Bauern werden auch in Istanbul nur langsam Staedter, aus Waldviertlern in Wien oft auch nicht. Andererseits mengt sich das Zentrum in das Leben der Peripherie ein, indem Zweitwohnsitze und staedtischer Geschossbau im Umland ueberhandnehmen. Und beide Durchdringungen scheinen nun unter veraenderten Umstaenden, naemlich der veraenderten Zuordnung zum Zentrum oder zur Peripherie, neue Siedlungsformen und cdamit neue Lebensformen hervorzubringen. Oder, um Lemches Ansatz auch hier zu folgen: Die individualistisch veraenderte Lebensweise bringt neue Siedlungsformen mit sich, in der Kontakt und Zugehoerigkeit weiter abnehmen.

Und was die Habiru betrifft, so sei zunaechst nur folgendes gesagt:
In den Amarnabriefen beklagt sich der Koenig von Jerusalem beim Pharao, dass Menschen mit diesem Namen sein Land unsicher machen. Das wurde von der Forschung gern als Hinweis auf die Einwanderung der "Hebraeer" genommen, zumal sonst kaum ein ausserbiblischer Hinweis auf die Erzvaetererzaehlungen auszumachen ist. Nur kann die neuere Forschung diesem Namen kein Volk zuordnen, damit sind eher bestimmte Individuen gemeint, die den Staatsverband verlassen, weil sie verfolgt werden, oder weil sie keine Lebensgrundlage mehr haben. Diese Gruppe ist fuer das ganze zweite vorchristliche Jahrtausend bezeugt, aus heutiger Sicht koennen sie als Fluechtlinge oder Migranten bezeichnet werden. Diese Gruppe verunsichert die staatliche Ordnung, die darauf keine Antwort findet, und andererseits koennte sie mit der Volkswerdung neuer Staemme zu tun haben, schliesslich mit dem Volk Israel. Ob jetzt dieser letzte Schluss gerechtfertigt ist oder nicht, jedenfalls ist das ein Modell, dass jene Vorgaenge viel besser beschreibt, die man frueher als Voelkerwanderung bezeichnet hat, auch in Europa.
Nocheinmal: die Habiru sind "Freigesetzte", also Menschen ohne Arbeit, Zugehoerigkeit und Bindung. Spielball eben.

Mor Gabriel

Schon als sich das Christentum erstmals heftig stritt wegen der Zweinaturenlehre, im 5. Jahrhundert, war dieses Kloster - damals hiess es noch Simeonskloster - im Tur Abdin theologisch federfuehrend. Damals konnte man sich nicht zu den in Chalcedon vorgetragenen Formulierungen durchringen und wurde seither vom byzantinischen Patriarchen benachteiligt, vom Kaiser (bzw. seiner Mutter) jedoch bevorzugt. Theodosius etwa stiftete groessere Summen und Laendereien, und bis heute ist das Kloster wie die ganze jakobitische Christenheit in seiner Umgebung angefeindet, aber keineswegs arm. Die wenigen noch verbliebenen Christen, die im Land systematisch abgedraengt werden, leben von der Unterstuetzung der ausgewanderten Familienmitglieder.

Die Hauptkirche ist ein Querschiffbau, also aehnlich einer Moschee breiter als lang, und ohne eine bauliche Orientierung auf den Altar, der in einer mittigen Nische aufgestellt ist. Diese Absis ist mit einem kunstvollen Mosaik ausgelegt, das gerade renoviert wird - ansonsten ist der Raum, der noch zwei weitere Nischen an der Ostwand aufweist, ganz schmucklos. Die weiteren Gebaeude sind wie die Stadt verschachtelt: das Oktogon, die Grabnische, die Marienkirche, Kueche, Gemeinschafts- und Wohnraeume.
Wir treffen den Erzbischof zuerst in der Kirche, spaeter nochmals im Gemeinschaftsraum, wo wir zum Tee geladen sind. Ich war zu optimistisch, als ich die Zeichen der Messe im Sumelakloster sowie die angekuendigte in der armenischen Akdamar-Kirche (die inzwischen wegen einer Wahl in der Tuerkei abgesagt wurde) als Foerderung der Christen durch die Regierung interpretierte. Schon Van Beyburt, der armenische Vertreter im georgischen Parlament, hatte darin Meilensteile und Zeichen der Oeffnung sehen wollen. Der Bischof hingegen zaehlte die vielen Morde an Christen in den letzten Jahren auf, an Priestern, einfachen Christen, die in einem Amt vorstellig waren, und zuletzt an einem Bischof. Als Taeter wuerden jeweils Minderjaehrige genannt, die noch nicht strafbar seien. Die Regierung betreibe ein Doppelspiel, spektakulaere Gottesdienste auf der einen Seite, die fortgesetzte Verweigerung christlicher Rechte auf der anderen Seite, wie das auf die Wiedereroeffnung des Priesterseminars. In der Bevoelkerung nehme der Hass auf die Christen staendig zu. Bei der juengsten Messe waren 3000 Polizisten noetig, um Uebergriffe der Bevoelkerung zu verhindern. Der Diakon gab zu bedenken, dass die meisten Bewohner Trabzons von zwangsislamisierten Christen abstammten, und dass keineswegs alle Pontusgriechen vertrieben werden konnten. Im ganzen wuerde also gegenwaertig die Christenverfolgung in der Tuerkei stark zunehmen. Die europaeischen Regierungen wuerden aber ihre Wirtschaftsinteressen in dem aufstrebenden Land nicht gefaehrden wollen - es bahnt sich also eine Wiederholung der Christenverfolgungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts an - wenn auch auf einer anderen Ebene.
Wir sehen also eine Biopolitik des 21. Jahrhunderts, die auch die Stellung der europaeischen Kirchen in der Gesellschaft in neuem Licht erscheinen laesst. Womit beschaeftigen wir uns eigentlich?

Syrien, eine ganz andere Geschichte

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Schweigen will ich von den 25 Passkontrollen in dem staubigen Niemandsland zwischen zwei Zaeunen, wo im Schatten sitzende, mit breitkrempigen Muetzen ausgestattete Polizisten gelangweilt meinen Pass durchblaetterten und mir die immergleichen Fragen nach meinem Beruf und dem Namen meines Vaters und dem meiner Mutter stellten, die doch alle in dem sauber eingeklebten Visum in arabischer Schrift beantwortet sind, um sie dann mit einem Ausdruck der Verwunderung oder Belustigung mehrmals zu wiederholen, waehrend ich mit meinem Rucksack in der Sonne stand und geduldig zu warten hatte.
Haeufig wurde ich hoeflich in deutscher Sprache von Passanten angesprochen, oder auch englisch von Mitreisenden im Bus oder spaeter in Deir al-Azzor, manchmal fuer ein laengeres Gespraech, oft auch nur fuer einen herzlichen Gruss und ein Willkommen.
Nun, die Geschichte mit dem Pass:
In Syrien ist es ueblich, beim Kauf einer Fahrkarte fuer den Buss den Pass vorzuweisen, und spaeter wird man dem Busbahnhofsvorstand vorgefuehrt, welcher in einem klimatisierten Buero mit getoenten Scheiben auf einem Lederstuhl neben einem leeren Schreibtisch sitzt und raucht und eine Kopie meines Passes verlangt, die im Buero gegenueber schnell und unbuerokratisch angefertigt wird. Das gleiche findet auch am Busbahnhof des Reisezieles statt, wobei mich der Vorstand, dem wie einem Offizier immer wieder von hereinstuermenden Maennern Listen vorgelegt werden, die er kurz ansieht, etwas dazu erwidert oder etwas hinaufkritzelt, dann schliesslich etwas beiseite nimmt und sich nach meinem Hotel in der stadt erkundigt, und, als ich ihm klarmache, dass ich gerade erst angekommen sei, erst nach meinen finanziellen Verhaeltnissen fragt und mir dann Vorschlaege macht, die ich mit denen in meinem Reisefuehrer uebereinstimmen. Er notiert das und empfiehlt mir, ein Taxi zu nehmen, aber keinesfals mehr als 50 Pfund zu zahlen, was er selbst noch, herausgekommen, dem Taxifahrer nachruft.
Im Hotel angekommen, frage ich nach einem Bankomaten und werde an einen Ort gewiesen. Dort gibt es zwar einen Automaten, aber er ist ausser Betrieb. Ich finde dann noch zwei oder drei weitere, bei einem davon versuche ich mehr als 20 Mal mit allen moeglichen Tastenkombinationen, Geld abzuheben, aber stets erfolglos, was mir ebensoviele Zettelchen bestaetigen. Gleiches am naechsten Tag, dem heutigen Freitag. Die Gassen sind an diesem islamischen Sonntag auffaelig still, die Automaten ebenso. Ein Syrer erklaert mir mit freundlichem nicht von geringsten Zweifel irritierten Gesicht, es sei eben Ramadan und Feiertag, da wuerden alle Menschen ruhen.
Somit konnte ich heute nicht den vorgesehenen Ausflug nach Dura Europos und Mari machen - es wurde aber dennoch ein bewegter Tag. Denn am Nachmittag fand ich ein Internet-Cafe, das geoeffnet hatte, und man nahm mir auch hier den Pass ab. Um 6 Uhr wurde ich gedraengt, das Lokal zu verlassen, weil nun doch der Ramadan ende und man zum Fastenbrechen heimmuesse. Der Pass, den man mir zuschiebt, war aber nicht meiner. Ich kuendigte an, das Lokal nicht zu verlassen ohne meinen Pass, und hielt eine kurze Strafpredigt, die der baertige, mit weissem Kaften bekleidete junge Mann zerknirtscht ueber sich ergehen liess. Denn bekanntlich ist man in Syrien ohne Pass kein Mensch, nicht einmal ein Busspassagier oder ein Internetcafebenuetzer. Er telefoniete ein wenig, nach und nach erschienen einige junge Maenner, und schliesslich einer, der den Besitzer gefunden haben wollte, der meinen Pass haben muesste. Ich stieg zu ihm aufs Motorrad, und er brauste um einen Haeuserblock zu einem Hotel, wo aber wieder die gleiche Ratlosigkeit herrschte. Schliesslich hatte man eine neue Nachricht bekommen, und nun waren es zwei Maenner, die mich mit den Moterraedern zu einem anderen Hotel brachten, wo nun tatsaechlich der franzoesische Passbesitzer und gegenwaertige Inhaber meines Passes verzeichnet war. Nur war er nicht da. Nachdem eine japanische Reisegruppe eingetroffen war, ihre Zimmer bezogen hatte und nacheinander einzeln erschienen war, um die konsumierten Getraengeflaschen beim Pfoertner vorzuweisen, es waren jeweils die gleichen, ein grosses Wasser und ein kleines Cola, stuermte ploetzlich einer der Maenner hinaus und kam kurz darauf triumphierend mit meinem Pass zurueck.
Schliesslich fragte ich den Portier, der ausgezeichnet englisch sprach, nach einem funktionierenden Bankautomaten, und er wies mich in die vor dem Hotel abzweigende Strasse, wo anstatt in 700 Meter Entfernung schon nach ein paar Schritten eine stattliche Bank lag, vor der zwei finstere Automaten angebracht waren. Im Geschaeftsraum erblickte ich jedoch hinter einer Glasscheibe ein weiteres Geraet, und als ich darauf zutrat....
Weiter muss die Geschichte nicht mehr erzaehlt werden, es genuegt, dass das empfohlene Restaurant (man hatte - ich hatte es den Gesichtern angesehen - kurz erwogen, mich wegen der erlittenen Umstaendlichkeiten zum Essen einzuladen, es war aber nicht dazu gekommen) nicht geoeffnet hatte, und ich mich daher an jenes gegenueber meinem Hotel wandte.
Die andere Geschichte von dem vergessenen Zimmerschluessel in dem erwaehnten Cafe, den mir der Besitzer abgenommen hatte, um den Namen meines Hotels zu entziffern, das darauf geschlossen wurde, braucht ebenfalls nicht weiter ausgefuehrt zu werden, da sie ebenfalls bereits geklaert ist. Und ich will mit dem Hinweis schliessen, dass damit noch gar nicht alle Ereignisse des Tages weder erwaehnt noch verschwiegen wurden, und dass der kommende trotz der Zeitreise durch Jahrtausende weit weniger ereignisreich geplant ist.



Uebrigens, was hier im Fernsehen staendig laeuft:
Israelische Soldatin verhoehnt palaestinensische Gefangene
http://www.focus.de/politik/ausland/nahost/israel-soldatin-posiert-mit-gefangenen-palaestinensern_aid_542118.html
Und weiters:
BP hat fuer die Freilassung der libanesischen Attentaeter durch das schottische Gericht interveniert. Wird mit den Bildern des triumphalen Empfangs in Lybien gezeigt.

Turabdin - Hoehepunkt und Abschied

Am Mittwoch war ein beschwerlicher Reisetag, von Diyarbakir nach Batman, weiter nach Hasankeyf, einem Hauptziel meiner Reise. In der prallen Mittagshitze (so geht es allen Forschern, habe ich gehoert) den Tigris entlang, in dem quiekend vor Vergnuegen Kinder plantschten und erst, als sie mich erblickten, ein Geheul anstimmten, doch die Aussicht auf brennheissen Ufersand liess sie von mir Abstand halten, entlang des Flusses, der allein bereits altertuemlich war, waehrend oft angenommen wird, ein Fluss erneuere sich fortlaufend, spuerte ich nach und nach alle Kostbarkeiten auf, wie die verfallenen Torboegen, die renovierte Moschee und die Tuerbe, beide weit oberhalb des Flusses am mesopotamischen Plateau, dagegen die unzaehligen Felshoehlen entlang des Flusses, die, soweit vom Dorf erreichbar, allesamt mit Unrat zugeschuettet waren, das Dorf selbst mit seinen ineinander verschachtelten Haeusern und jeweils einem Diwan auf dem Flachdach, auf dem sich die Familie zum Abendessen versammeln wuerde, wie ich spaeter sah, weiters einige der Haustiere, die gelangweilt am engen Hof herumstiegen oder neugierig aus einer Haustuer blickten, waehrend einige Esel, die am Flussstrand angebunden waren, dort, wo es im Flusstal gut hallt, ein Eselkonzert gaben, und schliesslich einige Tuerken oder Kurden, die gemaechlich hinter einer Zeitung den Tag ueberstanden und alle anfallenden Dinge, wie die voruebergehende Unterstellung eines Rucksacks oder die Erteilung einiger Auskuenfte, den Kindern ueberliessen, die hier recht verlaesslich erschienen. Es haette wohl noch weiterer Forschungen bedurft, um zu ermessen, was alles durch die Aufstauung des Flusses veraendert werden wuerde.

Am Abend in Midyat erwarteten mich einige nutzlose Wege auf der Suche nach einem Hotel, und nachdem ich beinahe ganz ungeplant auch schon die ganze Neustadt erkundet hatte, wo mir aeltere Maenner auffielen, die sich freundschaftlich in kleinen Gruppen am Gehsteig auf Hockern um ein Tischchen mit Tee niedergelassen hatten, um im Schatten den Nachmittag zu Ende gehen zu lassen, waehrend wegen des Ramadan nirgends ein Restaurant oder Teehaus offen hatte, wo ich selbst mich haette erholen koennen, entdeckte ich gemeinsam mit dem freundlichen Juwelier, der meinen Rucksack inzwischen untergestellt hatte und von allen Passanten hoeflich gegruesst wurde, einige Schritte neben seinem Laden doch ein kleines Hotel, das geoeffnet hatte. Dort gab es Ventilatorkuehlung im Zimmer, ein Lochklosett aus Porzellan und eine Kuebeldusche fuer alle Gaeste gemeinsam, naemlich den aelteren Mann im Nebenraum und mich. Ich traf ihn spaeter beim Abendessen wieder, er war der Scheich, der im Lokal laut lachend die Enkelkinder herzte, und spaet in der Nacht hatte er mich im Hotel erwartet und stellte sich als tuerkischer Offizier vor, der jetzt mit 50 in Pension gegangen war, nachdem er zuletzt im Irak gekaempft hatte. Er erkundigte sich nach meinen Reisezielen und schien alle Orte zu kennen.
Als ich das Hotel bezogen hatte, eilte ich mit dem Bus in die Altstadt und ging aufs geratewohl zwischen den braunen Haeusern durch die engen Gassen. Ich sah immerhin zwei der angeblich zwanzig Kirchen, und von einer Terasse aus sah ich die Sonne sinken ueber die schachtelartig zusammengerueckten Haeuser, die am Hang uebereinander standen. Die Familien sammelten sich jetzt zum Essen auf den Daechern, und manche winkten mir freundschaftlich zu, waehrend ich, sobald es dunkel war, wieder hinunterstieg und sah, dass der Bus nur bei Tageslicht fuhr, weshalb noch ein paar Kilometer Spaziergang dazukamen. Im grossen Lokal gegenueber dem Hotel war ich beinahe schon der letzte Gast, genoss aber ein koestliches Menue, zusammen mit den Angestellten, die immer erst als letzte essen duerfen.

Und am Morgen ging es aehnlich weiter. Wegen des Ramadan bekam ich kein Fruehstueck, konnte aber einige Gebaecke kaufen. Mit diesen schlich ich in das Hotel, wo ich am Vortag abgewiesen worden war, sah hinter der Theke den Portier schlafen und ging weiter in den Speisesaal, wo ich das Gebaeck mit einigen Tassen Kaffee knabberte. Und hier lernte ich das freundliche italienische Paar kennen, das ganz wie ich auf der Spur der Altertuemer des Alten Orient war, aus Udine stammten sie, also gleichsam in Sichtweite, und so taten wir uns diesen Vormitag zusammen und fuhren nach Mor Gabriel, dem geistigen Zentrum des Turabdin, und dessen Bischofssitz.


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Im Turabdin

Noch ungestaut!

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Erster Tag in der Ferne

Nach einem Tag bei staubiger Hitze, 39 Grad, in der kurdischen Hochburg im Südosten der Türkei, durch Staetten mit Unrat unterhalb der Stadtmauer, zum Tigris hin, Siedlungen mit Nylonsackbergen am Stadtrand, und dann weiter durch das enge Labyrinth der Stadt aus dunklem Basalt: Eine Kirche ohne Gemeinde. Ein Moslembub hat sie mir freundlich aufgesperrt und seine Erklaerungen aufgesagt.Eine Entmutigung?
Nein, denn die Gemeinde ist nicht am Glauben gescheitert, sondern an der Verfolgung durch andere. Sie trifft sich jetzt anderswo. Etwa vorgestern, am grossen Marienfeiertag, zu Tausenden im Sumelakloster, das seit Jahrzehnten leerstand. Oder in wenigen Wochen in der neu renovierten armenischen Kirche in Akdamar.
Die Gemeinde ist der Leib Christi. Der geht nicht unter.

Morgen dagegen werde ich eine Stadt sehen, bevor sie untergeht. Derselbe Tigris, der Diyarbakır umfliesst, soll weiter unten aufgestaut werden. Es geht um Energie, Macht und Geld. Es lst elne österrelchlsche Flrma, die dort baut.

Die Gemelnde geht nicht unter, sie hat noch viel zu tun.

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İn der Strafkolonie. Franz Kafka

Obwohl Kafkas Text 1914 entstand, will ich ihn als İnterpretation meiner jüngsten Überlegungen über das nackte Leben betrachten. Besonders die willenlose, anscheinend gegen das eigene Schicksal gleichgültige Existenz des Delinquenten spricht für eine explizite Darstellung eines durch Entrechtung und Lagerhaft voellig verfügbar gemachten Menschenlebens, das sich mangels Gerichtsverhandlung, kundgemachter Anklage und Verurteilung selbst nicht verorten und folglich auf nichts berufen kann. Die vorgebliche Verurteilung besteht nur in einem Beschluss des Richters und Offiziers, und hat daher weder Ort noch Zeitpunkt - seine einzige Kundmachung würde in dem eingravierten (unleserlichen) Spruch bestehen.

Es ist vielleicht zuwenig bedacht worden, dass ja die ganze Szenerie, obwohl sie niemals im Text erscheint, doch eine Strafkolonie ıst, auf einer İnsel, einem Kommandanten unterstellt.
Wer wird hier bestraft, und wofür?
Offensichtlich ist der an der Exekution beteiligte phlegmatische Soldat ebenfalls ein Gefangener, der Schluss liegt nahe, dass auch der Offizier und der Kommandant es sind - nur eben der Reisende ausdrücklich nicht, da er ja das ganze Auditorium und die einzige Instanz der Abhandlung ist. İn der Strafkolonie ist naemlich der Grund für dıe dargestellte Urteilssituation zu suchen. Sie ist der eigens hergestellte Schauplatz ausserhalb des Rechts. Was sich hier vollzieht, ist Selbstjustiz ohnev İnstanzen, die sich am Ende auch an sich selbst vollzieht und dadurch aufhebt. Am alten Kommandantenwurde das bereits vorweggenommen. Die İnstanzenlosigkeit besteht ungeachtet der militaerischen Raenge, dıe ja vorhanden sind - und der vorgeführte Delinquent bekleidet einen niederen Rang. Aber indem Macht und Zustimmung auch dem alten Kommandanten entzogen werden, bleibt auch dieser nicht von der Verurteilung ausgenommen. Aber selbst der neue Kommandant wird als von Frauen beeinflusst dargestellt: Er tifft zwar Entscheidungen, aber er ist nicht deren Subjekt.
In der Kolonie gibt es kein Handeln und keinen Handelndes. Der einzig scheinbar taetig dargestellte Offizier wird mit keiner Handlung gezeigt, sondern nur mit einem Versuch der Rechtfertigung, der aber scheitert. Seine eigene Hinrichtung ist ausdrücklich keine Handlung eines Subjekts, sondern ein Mahlen der Maschine, und es sollte aufgefallen sein, dass sie nicht einmal eingeschaltet wurde, und im Ablauf ganz unerwartete Verhaltensweisen zeigt. Die Maschine wird als einzig taetiges Wesen gezeigt, das seine beiden Konstrukteure verschlingt, ohne einen Mord zu begehen (Agamben) - eher als Verhaengnis denn als Unfall. Deshalb ist der Apparat Ausdruck und Sinnbild der Strafkolonie im ganzen, welche Schauplatz der Herstellung von Subjektlosigkeit ist, aiso Ausnahmezustand und Lager zugleich.

Und was ist nun mit dem Reisenden selbst?
Ohne ihn bestünde in "Gegenwart" der Maschine dieselbe Situation wie in "Warten auf Godot". Er ist in der Szenerie der Lethargie der Erwartete, der die Selbstrechtfertigung ermöglichen soll, sich aber verweigert. Es findet keine Rechtfertigung statt, das Gericht vollzieht sich nicht am Beschuldigten, sondern am vermeintlichen Richter, im messianischen Strafgericht also, durch kein Subjekt im innerweltlichen Sinn.

Möglicherweise liesse sich das Apparat als Manifestation des Foucaultschen Begriffs der Diapositive lesen, Apparaturen der Verfügung über und Verfügbarmachung von Menschen in der Normalisierungsgesellschaft. Diapositive entstehen wie die öffentliche Meinung, es lassen sich zwar "Player" angeben, Massenmedien , Politiken, Forschungen, aber keine Verursacher, die verantwortlich zu machen sind. An dieser Stelle wird der Vergleich mit Kafkas Apparat ungenau. Eher ist der Apparat, wie oben gesagt, ein Verhaengnis, das auf Entsubjektivierung zulaeuft und diese umfassend verwirklicht.

Die Flucht des Reisenden?
Warum entzieht sich am Ende der, in dem eine Instanz erkannt sein wollte, ohne Rechtfertigung zu gewaehren?
Die Flucht zeigt ein Ausserhalb des Lagers, das gleichwohl, aus der Sicht der im Text dargestellten Welt, fıiktiv ist. Ist der Reisende ein Feigling, da er sich nicht in die Arena der Macht begeben hat?
Nein, der Reisende ist ein Godot, der noch zuwartet. Denn was er zurücklaesst in der Strafkolonie, ist ein zerstörter Justizapparat , ein nichtdesavuierter Befehlshaber und zwei freigesetzte Individuen, die das Heft in die Hand nehmen könnten und einen eigenen Text schreiben. Er wird erst am Ende wieder erscheinen, wenn Subjekte gerechtfertigt sind.

Meine ersten Ziele

http://de.wikipedia.org/wiki/Hasankeyf

http://m-h-s.org/ilisu/front_content.php?client=5&lang=7&idcat=160&idart=274&subid=&idart=274&mmstart=24

http://steiermark.orf.at/stories/461477/

http://www.yezidi.org/geschichte_religions.0.html

http://de.wikipedia.org/wiki/Tur_Abdin

Asylwerber

a.

VORBEMERKUNGEN. Weitab von jeglicher "Realpolitik" fungiert als reines Symbol das Thema Saualm, ein Schmerzzeichen, das Zustimmung oder Ablehnung fordert und ansonsten keine weitere politische Bedeutung zu haben scheint. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ist eine genauere Untersuchung des Symbolwerts dieses Versuches der Flüchtlingsunterbringung nötig, die real gesehen ja völlig ineffizient ist. Im Oktober 2008 wird im ehemaligen Kinderheim auf 1200 m Seehöhe, 15 km von der nächsten Siedlung entfernt, eine „Sonderanstalt für straffällige Flüchtlinge“ eingerichtet. Acht Asylwerber aus Georgien, Kasachstan und Gambia werden dort untergebracht, bis sie im Dezember den Ort verlassen und vor dem Büro des Flüchtlingsreferenten protestieren. Die Landesregierung bleibt aber trotz Kritik weiterhin bei ihrem Plan.

saualm_weichselbraun

SAUALM_exterritorial

http://www.youtube.com/watch?v=f9tkP8lkyDQ
http://www.youtube.com/watch?v=WQnBae1WisM&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=l1n2la1zLQ0&feature=related

Ein gänzlich anderes Thema ist das, was ich zuletzt in meiner alten Heimat erlebt habe, als ich nach langen Jahren wieder einmal vom Norden Wiens ins Weinviertel fuhr, auf einer Strecke, die ich seit meiner Kinderzeit kenne. Ich machte die Erfahrung, dass man eigentlich gar nicht mehr aufs Land kommt, weil die Landschaft mit Siedlungen, Gewerbebetrieben und Verkehrsflächen praktisch zugewachsen ist. Wo ich früher kilometerlange Weizen- oder Spargelfelder mit dem Rad querte, schneidet jetzt eine Autobahn die Fläche, gesäumt von locker verteilten Baumarkthäuschen unter aerodynamisch ausgerichteten Windrädern. Waren die Dörfer entlang der Brünnerstraße und der Nordbahn auch früher keine Schmuckkästchen, sondern in der geraden windigen Einöde ein Bild der Tristesse, wie übrigens ganz ähnlich auch im Süden und Osten Wiens, so bot sich diesmal ein Bild der Hässlichkeit, die kaum mehr durch Grünflächen aufgelockert war.

b.

DIE THESEN. Seit dem Mittelalter sind in Europa zwei Siedlungsformen dominant: Dorf und Stadt. Sie stehen für zwei unterschiedliche Lebensformen, für eine mehr sesshafte, bäuerlich und traditionell geprägte, sowie für eine mobilere, die eine starke soziale Differenzierung kennt, sehr vom Handel und Gewerbe bestimmt und immer wieder verändert wird. Dem entsprechen verschiedene Sozialformen, einerseits eine dörflichen Stabilität in einer überschaubaren Größe, wo allerdings Familien bzw. Höfe die Grundeinheit sind, oder öffentliche Positionen wie Lehrer, Bürgermeister oder Pfarrer – diese öffentliche Verfügbarkeit wird im Begriff Amt ausgedrückt - nicht der einzelne, und andererseits eine von Handwerkerzünften ausgehende Orientierung an Berufen des sekundären und heute immer stärker des terziären Sektors, also Industrie und Dienstleistungsberufe. Man könnte sagen: Stabilität und Mobilität (Wandel) – so als stünden sich die Nachkommen der ehemaligen Siedler und die der Nomaden gegenüber.
Die These lautet nun, dass im 20. Jahrhundert zwei neue Siedlungsformen dazukommen: das Lager und die Vorstadt.

1. Das nackte Leben

c.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bringt die europäische Kolonialpolitik im Zuge der Kriegsführung in beanspruchten Territorien die Form des Konzentrationslagers hervor: die campos de concentrationes in Kuba sowie die concentration camps in Südafrika. Giorgio Agamben betont, dass es sich um Formen des Ausnahmezustandes und des Kriegsrechts handelt, die in demokratische Staaten entstanden sind und auch in Deutschland zuerst 1923 von der sozialdemokratischen Regierung angewendet wurden, um tausende Kommunisten sowie geflüchtete Ostjuden unterzubringen. Die Nationalsozialisten konnten somit auf eine bestehende Rechtsform (Ausnahmezustand) sowie eine Organisationsform (Konzentrationslager) zurückgreifen, als sie die Arbeitslager und Vernichtungslager einrichteten. Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt (Agamben, Homo sacer, S. 177). Es handelt sich um Einrichtungen, die für vorübergehende Notsituationen vorgesehen sind, aber aus Kalkül zu einer Dauereinrichtung gemacht werden.

d.

Hannah Arendt hebt das Prinzip der totalitären Herrschaft hervor, dass alles möglich ist, welches gerade in den Lagern zum Ausdruck kommt – übrigens gleichermaßen in den stalinistischen Lagern. Das Lager wird zum Zielbild der Herrschaft, eine „Totalverfügung“ über den Menschen zu erlangen. Mit dem Ausdruck Biopolitik beschreibt Foucault den politischen Anspruch, Leben zu machen, der über die Macht, Menschen zu töten, weit hinausgeht (Sexualität und Wahrheit 1, S. 165). Er hat nicht nur die faschistische Eugenik im Blick, sondern jegliche Planung der Existenzbedingungen: Gesundheitspolitik, Familienpolitik, Stadtplanung oder Bildungspolitik oder Einwanderungspolitik. Diese Machttechnologie bringt die Normalisierungsgesellschaft hervor, in der sich ihr gestaltender und normierender Einfluss bis in die privatesten Bereiche sowie gleichzeitig auf das Ganze der Gesellschaft erstreckt. Es ist Foucaults Verdienst, den individuellen Körper sowie den Volkskörper als Ort der Politik ins Licht gebracht zu haben. Das umfasst nicht nur Fragen von Hygiene und Gesundheitsvorsorge, sondern Vorstellungen individueller Lebensführung, medizinischer Forschung, Körperästhetik – auch Beziehungsästhetik: Da ist an die schrittweise Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu denken, an die Straffreiheit und gleichzeitige Anonymität bei Abtreibungen, sowie an die Pränataldiagnostik, deren bloßes Angebot bereits einen massiven Eingriff auf das individuelle Leben darstellt, sowie gleichzeitig auf den Volkskörper im Ganzen, da inzwischen kaum mehr Kinder geboren werden, deren Erbgut von der diagnostizierbaren Norm abweicht. Das ist Aidsprävention genauso wie allgemeine Rauchverbote, das sind Impfkampagnen wie auch die Freigabe von Drogen oder Ersatzdrogen.

e.

Das Produkt dieser Politikform heiß bei Agamben: das nackte Leben. Es ist das, was im faschistischen Staat nach Abzug des demokratischen Anspruchs auf Freiheitsrechte (Ausnahmezustand), auf Bürgerrechte (Entnationalisierung der Juden) und damit einhergehend auf Menschenrechte noch übrig bleibt. Der Mensch im völlig rechtlosen Zustand des Lagers: deshalb konnte man mit ihm machen, was man wollte. Gleiches sieht Agamben im klinisch Toten, auf dessen Körper der Zugriff erlaubt ist. Die neu verfügte Definition von Tod als Hirntod erlaubt die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen des Körpers des für tot erklärten Wesens. Somit schafft die Definition diese Form von Existenz.
Gleiches ist auch zu sehen bei in Invitrofertilisation hergestellten überschüssigen Föten. Das nackte Leben ist das Produkt der Biopolitik, die Leben macht. Ein weiteres großes Feld der Biopolitik ist die Zuwanderungspolitik.
Weltweit sind derzeit über 40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Bürgerkrieg, Hunger, Naturkatastrophen, Verfolgung, Folter oder Todesstrafe. Etwa die Hälfte davon sind Flüchtlinge im eigenen Land, also Binnenvertriebene. Sie sind in Darfur Spielball der von der Regierung ermächtigten arabischen Reitermilizen, im Nahen Osten Geiseln der antiisraelischen Politik und Herd von Extremismus und Terrorismus. Seit 1948/1967 determiniert die Existenz der palästinensischen Flüchtlingslager in den Nachbarländern Israels jegliche Nahostpolitik. Abgesehen von Jordanien erhielten die vertriebenen Palästinenser nirgends Bürgerrechte, stattdessen werden durch die syrische und iranische Regierung Terrorgruppen aufgerüstet. Es handelte sich bei den beiden Flüchtlingswellen um etwa eine Million Menschen, heute leben 3,5 Mio Menschen in den Lagern. Der Nahostkonflikt, und insbesondere das Flüchtlingsproblem, ist als Geburtsstätte des internationalen Terrorismus zu betrachten.
Und wie soll das genannt werden, was sich auf griechischen Straßen und Plätzen abspielt (Fotos vom August 2010), dieses Elend von tausenden Migranten, die monatelang auf eine Chance warten und schließlich, ohne ihre Gründe überhaupt darlegen zu können, schließlich still aus dem Land verschwinden?


Diese Bilder vom Flüchtlingselend in Patras, Griechenland, wurden von Achmed Nemry, einem von mir in Villach betreuten Sudanesen, im August 2010 aufgenommen, einige Monate, nachdem er von den österreichischen Behörden nach Griechenland abgeschoben wurde:

Asylwerber in Griechenland 2010

Asylwerber-in-Griechenland-20103

Asylwerber in Griechenland

Lager palästinensischer Flüchtlinge:

http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/bilder-1/lampe_detlef.htm
http://www.tagesschau.de/ausland/videoblogschneider130.html

Lager in Darfur:

Darfur_refugee_camp_in_Chad


f.

Wenn sich die Formen der Bebauung im Umland von Paris als Mischformen bezeichnen lassen, so ist damit der Wechsel von Einfamilienhäusern und Geschoßbau gemeint, von sozialem Wohnbau und Wohneigentum (Joachim Burdack in: Bastian/Hörner, Vor-Städte, S. 39). Deutlich wird die Beschleunigung des Lebens am Stadtrand vermerkt: Es entwickelt sich entlang der Ausfallstraßen und Bahnlinien, indem sich zuerst wenige Pioniere niederlassen, diese Zellen aber dann wie Brückenköpfe wirken und in mehreren Wellen Zuzüge anziehen, die sich dann recht wahllos anlagern. Das entstehende Bild zeigt überdeutlich jeglichen Mangel an Planung: Straßenzüge entlang früherer Feldwege, das Fehlen urbaner Zentren, von Begegnungsmöglichkeiten und öffentlichen Nahverkehrs, mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und nicht zuletzt die abscheuliche und geschmacklose Supermarktarchitektur der Einfamilienhäuschen – das alles wird wie vom Schicksal gegeben angenommen. Billige Betriebsansiedlungen „auf der grünen Wiese“ oder Tankstellen- Fastfood- und supermarksgesäumte Stadteinfahrten verlängern die Stadt ins Umland und künden von den kommenden Siedlungen im locker verbauten Gebiet.

http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,359343,00.html

http://www.sueddeutsche.de/app/flash/muenchen/slideshow/endstation/



g.

Dagegen handelt es sich bei den Vorstädten der Megacitys der Entwicklungsländer um Elendsquartiere. Interessant ist, dass dort zwischen am Stadtrand niedergelassenen Binnenmigranten aus ländlichen Gebieten sowie Kriegsflüchtlingen im selben Bereich kaum ein Unterschied auszumachen ist.
In Istanbul, gegenwärtig europäische Kulturhauptstadt, versteht man unter Gecekondus die über Nacht gebauten Häuser von Zuzüglern, die auch ohne Baugenehmigung nicht mehr abgerissen werden dürfen. Auf diese Weise wurde etwa aus dem ehemaligen elitären Erholungsgebiet Kağithane mit 5000 Einwohnern zur Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Siebziger Jahre eine Stadt mit 150.000 Einwohnern. Heute schätzt man den im Istanbuler Bezirk Şişli liegenden Stadtteil auf eine halbe Million Einwohner. Auffällig ist, dass die Ankömmlinge jeweils ihre Herkunft mitgebracht haben: Im Malatya-Viertel oder im Antep-Viertel hat man eigentlich das ganze Dorf mitgenommen, die selben Händler verkaufen dieselben (landwirtschaftlichen) Produkte, man spricht denselben Dialekt. Die Stadt wird zum Dorf, nicht der Dörfler zum Städter.

http://www.munichre-foundation.org/StiftungsWebsite/Topics/UrbanisationAndMegacities/de/

Dakar liegt auf einer ins Meer ragenden Landzunge, was die Ausbreitung beengt. Nach den direkt an die „cite“ grenzenden Stadtteilen Pikine und Guédiawaye ist Rufisque ein Mischgebiet von Industrie und Wohnvierteln. Böckmann schreibt: „In den Vorstädten bestehen gewachsene, die dörflichen Strukturen konservierende Wohnformen neben klassischen bidonvilles der Ärmsten der Armen. Hin und wieder errichtet einer, der es ‚geschafft’ hat, eine Villa. Familiäre Haupthäuser werden, sofern der Platz es erlaubt, durch Nebengelass und Einfriedungen ergänzt. Besteht die Möglichkeit, einen Gemüsegarten anzulegen, dann geschieht dies ebenso wie illegales Anzapfen von Strom-, Telefon- und Wasserleitungen. Bewässert wird das Gemüse mit häuslichen Abwässern. Die Produktion des Gartens wird zur Verbesserung des Familieneinkommens auf dem Markt verkauft. Je näher sich der Markt an der „cité“ befindet, umso höher ist der Profit, da die Reichen weniger feilschen.“ (Vor-Städte, S.19)

h.

Wer an die griechischen oder römischen, am Raster ausgerichteten städtischen Grundrisse gewöhnt ist, wird solches Wuchern als anarchistisch empfinden. Wer als Tourist aus dem Westen kommt, wird vielleicht Lebendigkeit und Erfindungsreichtum der Bewohner bewundern. Festzuhalten ist jedenfalls die weitgehende Planlosigkeit der sogenannten Stadtplaner, obwohl die Prozesse überall nach einem bestimmten Schema verlaufen. Diese Planlosigkeit findet sich aber auch bei den Bewohnern selbst. Die billigeren Zuzugsquartiere unserer Städte – das ist auch in der Kleinstadt Villach zu beobachten – werden von jungen Familiengründern angesteuert. Arbeitsstelle, Familie und Freundeskreis bleiben gleich wie bisher. Auseinandersetzung mit dem neuen Wohngebiet findet kaum statt, weder Nachbarn noch lokale Ereignisse finden Interesse. Während Kinder und Jugendliche naturgemäß eher für Gleichaltrige offen sind, orientiert sich die Familie an nichtlokalen Gegebenheiten. Und nach wenigen Jahren erfolgt der Umzug in ein besseres Viertel oder in ein Eigenheim.
Die Kommune mag eine gleich bleibende oder sogar wachsende Bevölkerung verzeichnen – die Menschen bewohnen die Stadt aber immer weniger. Die jeweilige Verwaltung versucht dann, die Bevölkerung durch Veranstaltungen und spektakuläre Ereignisse zu binden, verstärkt dadurch aber gerade die Beschleunigung. Danach gefragt, was er an seiner Stadt am meisten schätzt, sagt jeder stolze Villacher: „Dass ich schnell am Meer sein kann, in Graz oder in Salzburg, an den Kärntner Seen oder auf den Slowenischen Bergen.“ Kein einziger nennt etwas in der Stadt selbst. Und die Straßenzüge bestätigen und determinieren das: Sie führen aus der Stadt oder an ihr vorbei, aber kaum hinein.

DSC06527

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2. Entpersönlichung

i.

Auch die Lebensformen unterliegen der Beschleunigung. In den Firmen sind Langzeitangestellte selten geworden. Partnerschaften werden zunächst nur vorläufig eingegangen, auch wenn Kinder da sind. Falls eine entschiedene Bindung nachfolgt, gibt auch diese keine deutliche Stabilisierung – zu Trennungen kommt es dennoch. Ein großer Prozentsatz von Kindern wächst ohne in stabilen Beziehungen lebende Eltern auf. Sie werden schwerlich das nötige Rüstzeug für partnerschaftliche Kommunikation erwerben.
Die beschleunigten Lebensprozesse erschweren Bindungen weiter. Im Morgenstau macht man keine Bekanntschaften. Die ganze Apparatur der Lebensführung ist zu einer Hürde geworden, Beruf, Freizeit, Sport, Hobbies verlangen ihren Inhabern jegliche Aufmerksamkeit ab. Obwohl es die allerpersönlichsten Dinge sind und jeder sich freiwillig entschieden hat, ist doch eine erstaunliche Gleichschaltung zu beobachten. Die Führung einer eigenen persönlichen Existenz erscheint oft wie ein schwerer Rücksack, unter dem man stöhnt. Individuell ist das Bankkonto, nicht die Biografie.

j.

Alle aufgezählten Erscheinungen, von der Vorstadt bis zur beschleunigten persönlichen Existenz, stimmen in einem Punkt überein: Es sind Vorgänge, für die niemand verantwortlich ist. Von selbst entstehende Siedlungen, sich irgendwie ergebende Formen des Existierens und des Zusammenlebens, das scheint alles Moden und Konjunkturen zu unterliegen, die von niemand gesteuert werden und die kaum jemand durchschaut. Wohl lassen sich diejenigen ausfindig machen, die davon profitieren: Finanzberater, Lebensberater und Partnervermittlungsinstitute. Aber wie bei den großen Finanz- und Wirtschaftskrisen kann man zwar angeben, wessen Versagen sie ausgelöst hat und welche Maßnahmen sie lindern konnte, aber gesteuert sind diese Vorgänge von niemandem. Was mit Finanzmarkt umschrieben ist, ist bloßer Schauplatz von Ereignissen, aber verantwortlich sind weder der Markt noch die dort auftretenden Anbieter oder Käufer. Es ist eine Welt ohne Subjekt entstanden, und was sich ereignet, von der Finanzkrise bis zur persönlichen Existenz, scheint wie ein Verhängnis über erstaunte Menschen hereinzubrechen.

k.

Biopolitik hat das Leben bloßgestellt und verfügbar gemacht, wie es zunächst in den Lagern durchgeführt wurde. Aber dieses Lager ist nun umfassend geworden, es gibt kein außerhalb mehr. Womöglich eine Million Videokameras (Schätzung durch Arge Daten) kontrollieren in Österreich den öffentlichen Raum und machen Bahnpassagiere oder Kaufhausbesucher zu potentiellen Dieben und Terroristen. Jede Firma beaufsichtigt das Konsumverhalten ihrer Kunden mittels Kundenkarte und Warenbestand, Mobilfunkanbieter kennen das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden. Aber die Konsumenten scheint es nicht zu stören, bereitwillig lassen sie sich digital in die Karten sehen. Medienanbieter scheuen sich nicht, jede Sendung sogleich auf die Reichweite prüfen zu lassen, und folglich reichweitenbezogen zu produzieren, gleiches tun Politiker mit Meinungsumfragen. Mit dem Subjekt ist auch das Handeln entschwunden, das Ziele verfolgt und Welt gestaltet. Regieren ist eine Prozedur geworden, in der sich Abläufe vollziehen, ohne dass jemand dafür verantwortlich wäre. Biopolitik wird von niemand gemacht, aber sie verfügt über unser aller nacktes Leben.

l.

Das scheint einer der Gründe zu sein, warum wir im Westen uns so schwer tun mit den Migranten, obwohl unsere Völker alle lange Vorgeschichten von Einwanderung und Völkerwanderungen hinter sich haben. Wir sind selbst Getriebene und nirgends richtig daheim, um jemand aufnehmen zu können. Andererseits sind die Millionen von Migranten selbst Teil der Maschine: nacktes Leben, von niemand geschützt, nicht dort, wo sie Bürger waren (falls sie das überhaupt je waren; in Ländern wie Tschetschenien hat man kein Recht auf einen Pass – wenn man kein Russe ist), und auch dort nicht, wo sie hinwollen. Kriege, verfehlte Politiken, Naturkatastrophen bringen Menschen in Bewegung und berauben sie jeder Sicherung und Würde.

Und das ist nun der Grund, warum in einer Gesellschaft, die selbst gänzlich exterritorial geworden ist, in der Heimat, Handeln und Selbstsein verschwunden sind, nun dennoch wieder Lager errichtet werden, auf der Saualm wie in Guantanamo, im Tschad wie in Gaza: damit dem ausgesetzten verfügbaren nackten Leben, das überall entstanden ist, ein Außen entgegengesetzt wird, ein Außerhalb, das ex negativo nun seinerseits das Innen konstituiert. Die islamische Welt und Israel, einander jeweils außen und innen. Über das hergestellte nackte Leben müsste man nicht sprechen. Abtreibungen werden nicht registriert, Organbanken sind nicht öffentlich einsehbar, die Kreditkartennutzung wird nicht offengelegt, die Leser-Steuerung nicht selbst publiziert. Wo aber eine Zusammengehörigkeit konstituiert werden soll, da braucht es ein weithin sichtbares Außerhalb, über das viel Aufhebens gemacht werden muss. Das weiß der Kärntner Landeshauptmann genauso gut wie Achmedinejad, George Bush, Ismail Hanija wie Benjamin Netanjahu. Wessen bedarf die im innersten gefährdete griechische Gesellschaft? Genau.

Patras:

Asylwerber-in-Griechenland-2010

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